„Verständlichkeit hin oder her, aber irgendwann wird es lächerlich. Ein
Land-Tag ist ein Tag, den man auf dem Land verbringt, aber kein
Parlament. Und der Wahl-Kreis ist vielleicht der Kreis auf dem Wahlzettel,
in den man sein Kreuz macht. Ein Wahlkreis ist aber etwas anderes“,
schreibt ein Leser auf der Facebook-Seite der „Kieler Nachrichten“. Ein
anderer schlussfolgert: „Also kann bald jeder so schreiben wie er will, also
Bau-An-Trag oder Ge-Richt.“
Was ist schiefgelaufen?
Vor allem eines: Ausnahmslos allen 2,3 Millionen Wahlberechtigten die
Wahlbenachrichtigung in Leichter Sprache zu schicken – ohne jede
Erklärung, was das soll. Dabei ist der Hintergedanke an sich gut.
Lernbehinderung, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, geringe
Deutschkenntnisse: Zahlreiche Bürger können aus verschiedenen
Gründen schlecht lesen. Aber auch sie sind wahlberechtigt und haben das
Recht, die Informationen zur Landtagswahl zu verstehen.
Leider kann ein Landeswahlleiter eben nicht riechen, welcher Adressat zu
den geübten Lesern zählt und welcher nicht. Also orientierte er sich an
denjenigen mit geringen Lesefähigkeiten und folgte dem
Inklusionsgedanken und den Vorgaben des schleswig-holsteinischen
Landtags. Dieser hatte beschlossen, dass Wahlunterlagen in leicht
verständlicher Sprache erscheinen sollen. Aber die Praxis beweist: Das
Vorhaben war gut gemeint, die Umsetzung ist misslungen.
Was wäre die Alternative?
Zunächst ist es falsch, allen durch die Bank weg nur den Text in Leichter
Sprache anzubieten. Wer gut lesen kann und Leichte Sprache nicht kennt,
ist irritiert, fühlt sich nicht ernst genommen und lehnt diese Texte ab. Das
ist eine gängige, eine immer wieder erlebte Reaktion. Wer Menschen mit
geringen Lesefähigkeiten entgegenkommt, sollte gleichermaßen auch
jenen gerecht werden, die gut lesen können.
Leichte-Sprache-Angebote können nur Zusatzangebote sein, wenn
ein Großteil und nicht nur die eigentlichen Zielgruppen angesprochen
werden. Wie das glückt, hat das niedersächsische Justizministerium mit
Wendebroschüren gezeigt: Hüben der „normale“ Text, drüben das Ganze
in Leichter Sprache. Die Leser entscheiden, welche Textvariante sie lesen
wollen. Das funktioniert und kommt gut an – die erste, 10.000 Stück starke
Auflage der Erbrechtsbroschüre „Erben – Vererben“ war innerhalb weniger
Monate vergriffen.
Neben der Frage zum grundsätzlichen Einsatz von Leichter Sprache gibt
es ein wirksames Mittel gegen die Binde-Strich-Orgien: den
Mediopunkt. Er führt nicht zu falscher Rechtschreibung, verursacht
weniger Irritationen und ist selbsterklärend, wie die Uni Germersheim
festgestellt hat.
Übrigens: Dass sich „Abendblatt“-Chefredakteur Lars Haider über die
Leichte Sprache lustig macht, ist platt und verfehlt. Er verkennt, dass
Menschen mit geringen Lesefähigkeiten kurze oder „zerteilte“ Wörter viel
einfacher erfassen können. Er weiß offensichtlich nicht, wie viele auf leicht
verständliches Deutsch angewiesen sind. Haider verstärkt das, was die
Leichte-Sprache-Wahlbenachrichtigungen ohnehin angerichtet haben: Der
Fokus richtet sich auf die, die Leichte Sprache tatsächlich benötigen.
Durch das Lustigmachen über Leichte Sprache werden gleichzeitig
Menschen mit geringen Lesefähigkeiten diskriminiert. Verrückt, denn
genau das will Leichte Sprache nicht.
Dem ganzen Thema – vom Anfang beim Land bis zu Medienbeiträgen, die
die Wahlbenachrichtigungen ins Lächerliche ziehen – fehlt es an einem:
dem richtigen Augenmaß. yvw
„Wahlbriefe: ,Gut gemeint – schlecht gemacht‘“ im „Hamburger
Abendblatt“ vom 4. April 2017
„Leichte Sprache verschreckt Wähler“ bei den „Kieler Nachrichten“ vom
5. April 2017
"Wenn die Leichte Sprache zur Satire wird" / "Hamburger Abendblatt"
vom 11. April 2017
6. April 2017, ergänzt 11. April 2017
Binde-Strich-Orgien im Norden
Wahlbenachrichtigungen in Leichter Sprache verstören Bürger
Der Norden Deutschlands spottet vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein über die
Wahlbenachrichtigungen, die ausschließlich als Leichte-Sprache-Texte verschickt wurden. Wahl-Tag, Vor-
Name, Land-Tag, Geburts-Datum, Post-Leit-Zahl: Leser des „Hamburger Abendblatts“ empörten sich vor
allem über die Binde-Strich-Orgien, kritisierten die falsche Rechtschreibung und fühlten sich vom
Landeswahlleiter verschaukelt. Die „Kieler Nachrichten“ titeln: „Leichte Sprache verschreckt Wähler“.
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